München, 2. Dezember 2024.
Betrifft: Nr. 271 Samstag / Sonntag, 23./24. November 2024
„Wissen“ – „Globuli im Kreißsaal“
Zu allererst: Ein Brustabszeß bei einer stillenden Frau darf selbstverständlich nicht übersehen werden, und da ist der beispielhaft genannten Patientin eindeutig recht zu geben: „geht zum Arzt!“ Allerdings gibt es auch Ärzte, die z.B. bei Schmerzen im Oberbauch einen Herzhinterwandinfarkt übersehen, und genau so gibt es vermutlich Hebammen, die nicht zwischen Milchstau und Abszess unterscheiden können. Beides darf nicht passieren!
Aber: der Beitrag nimmt die Homöopathie als Methode in seine Überschrift, und dann geht es im Weiteren ziemlich wild durcheinander: eine „homöopathische Arnika-Salbe“ hat mit korrekter Anwendung homöopathischer Globuli ebenso wenig zu tun wie „Retterspitz“. Auch das Thema „Impfen“ hat mit „Homöopathie“ zunächst nichts zu tun, auch nicht im Zusammenhang mit dem Kreißsaal. Denn weder Hebammen noch ÄrztInnen sind automatisch „ImpfgegnerInnen“, wenn sie Homöopathie anwenden.
Immerhin wird darauf hingewiesen, dass große Geburtskliniken gute Erfahrungen gemacht haben, wenn Hebammen Homöopathie anwenden. Das wird auch nicht durch den Hinweis relativiert, dass Homöopathie in offiziellen geburtshilflichen Leitlinien „explizit nicht empfohlen wird“. Leitlinien sollen die Entscheidungsfindung von Ärzten unterstützen, aber sie sind rechtlich nicht verbindlich (denn sonst wären sie Richtlinien). Die Evidenzbasierte Medizin muss sich selbstverständlich auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, aber sie hat auch die Erfahrung von ÄrztInnen und anderen therapeutischen Berufen zu berücksichtigen, also auch die Erfahrung von Hebammen.
Eine Akademisierung im Bereich verschiedener Heilberufe kann ohne Zweifel ein Gewinn sein. Aber sie darf nicht dazu führen, dass neben dem Primat der „Evidenzbasierung“ die individuelle Erfahrung von ÄrztInnen oder anderen Heilberufen inklusive der Hebammen an Bedeutung verliert. Erfahrung ist neben Wissen ein wertvoller Schatz in der Medizin.
Homöopathie oder anthroposophische Medizin wird meist in den Bereich der „Weltanschauungen“ verbannt, aber dasselbe gilt für die akademische Medizin, wenn sie sich ausschließlich auf naturwissenschaftliche Evidenz beruft und therapeutische Erfahrung geringschätzt oder gar gänzlich ablehnt. Auch Homöopathie ist – lege artis angewandt – Erfahrungsmedizin. Sie hat allerdings dort ihre Grenzen, wo die selbstkritische Reflexion bei ihrer Anwendung fehlt.
Dr. med. Ulf Riker, Internist – Homöopathie – Naturheilverfahren
Wensauerplatz 10, 81245 München